10. Februar 2025
«ALBRECHT DÜRER. NORM SPRENGEN UND MASS GEBEN»
Ausstellung der Graphischen Sammlung ETH Zürich, bis am 9. März 2025

Bild: Albrecht Dürer, Rhinocerus, 1515, Holzschnitt, 243×308 mm, Inv.-Nr. D 13000, Graphische Sammlung ETH Zürich
«An Dürer denken heisst Liebe, Lächeln und sich erinnern», schrieb Thomas Mann 1928 in einem Essay. Und auch heute noch löst der Name Albrecht Dürer (1471–1528) in den meisten Menschen unmittelbar etwas aus. Wer die Augen schliesst und an Albrecht Dürer denkt, der sieht etwas. Sei es sein Selbstbildnis aus dem Jahr 1500, in dem er es wagte, sich ikonenhaft und christusgleich zu inszenieren, sei es das in Aquarell ausgeführte Rasenstück, mit dem er den Boden unter unseren Füssen zum Bildgegenstand auf Augenhöhe erhob, oder sei es sein Kupferstich der nackten Ureltern, in dem er seine Studien zur Proportion des menschlichen Körpers zusammenfasste und zugleich bewies, dass ein Künstler wie er keine Farben braucht, um die Natur selbst zu übertreffen.
Die Ausstellung der Graphischen Sammlung ETH Zürich zeigt mehr als 100 Werke des deutschen Renaissancekünstlers aus dem eigenen Bestand. Die Auswahl konzentriert sich darauf, Dürer als einen Künstler zu würdigen, dem es vor allem in seinem druckgraphischen Werk gelang, nicht allein Norm sprengend, sondern auch Mass gebend zu sein.

Bild: Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstich, 240×187 mm, Inv.-Nr. D 1258, Graphische Sammlung ETH Zürich
Die Graphische Sammlung ETH Zürich besitzt Albrecht Dürers druckgraphisches Werk sowohl in beneidenswerter Qualität als auch Quantität. Unter den ausgestellten Blättern können die Besucher und Besucherinnen etliche vertraute Ikonen aus Dürers Oeuvre entdecken. Etwa die «Melencolia I», jenes Bild, das von der Kunstgeschichte als «das Denkbild» schlechthin geadelt wurde und das tatsächlich nie aufgehört hat, eine Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler zu sein.
Charakteristisch für dieses Werk ist die beharrliche Verweigerung einer abschliessenden Gesamtdeutung bei gleichzeitiger verblüffender Eindeutigkeit alles Dargestellten im Einzelnen. Doch die «Melencolia I» ist bei weitem nicht das einzige Blatt der Ausstellung, das schon so manchen engagierten Interpreten zur Verzweiflung gebracht hat. Wer will, kann sich auch an Dürers erstem datierten Kupferstich, den «Vier Hexen» von 1497, versuchen und dem seit Jahrhunderten andauernden Streit um die richtige Lesart ein weiteres Kapitel hinzufügen. Sollen die vier nackten Frauen atsächlich Hexen darstellen? Was bedeutet ihre herausfordernde Sinnlichkeit? Warum liegt ein Totenschädel zu ihren Füssen? Und wofür stehen die Buchstaben „O G H“ auf der Kugel über ihren Köpfen?
Das gleichzeitig entstandene «Männerbad» zeichnet sich ebenfalls durch sein erotisches Potential aus und gehört zu den bekanntesten Holzschnitten Dürers. Das Blatt steht exemplarisch für Dürers schelmische Freude am anspielungsreichen Detail. So überlagert etwa der Wasserhahn nur scheinbar zufällig das Geschlechtsteil des an der Stele stehenden Mannes und eröffnet damit eine ganze Reihe von bedeutungsvollen Allusionen, die Theorien über die grassierende Syphilis ebenso einbeziehen wie gängige Synonyme und Symbole für das männliche Glied.

Bild: Albrecht Dürer, Männerbad, um 1498, Holzschnitt, 385 x 280 mm, Inv.Nr. D 1263, Graphische Sammlung ETH Zürich
Eine weitere, viel bewunderte Qualität Dürers ist seine Fähigkeit, zwischenmenschliche Schwingungen zu erfassen und Gefühle nachfühlbar darzustellen: von dumpfer Wut, Brutalität, Vulgarität über schiere Verzweiflung, Trauer, Mitgefühl bis hin zu Barmherzigkeit oder tief empfundenem Glück und Zuneigung.
Das kann in der Ausstellung besonders gut an den Passionsfolgen nachvollzogen werden, die das Leiden Christi eindringlich schildern. Zwei von Dürers Passionsfolgen sind in der Ausstellung vollständig zu sehen: Die im Holschnitt ausgeführte «Grosse Passion» (1496–1510) und die zwischen 1507 und 1512 entstandene sogenannte «Kupferstichpassion».

Bild: Albrecht Dürer, Erasmus von Rotterdam, 1526, Kupferstich , 247 x 191 mm, Inv.Nr. D 7756, Graphische Sammlung ETH Zürich
Dass Dürer nicht nur als Maler ein gefragter Porträtist berühmter Persönlichkeiten seiner Zeit war, belegen seine zahlreichen Bildnisse im Medium des Holzschnitts oder Kupferstichs. Die Ausstellung zeigt insgesamt sechs Porträts, darunter den viel bewunderten und oft kopierten Kupferstich mit dem «Porträt des Erasmus von Rotterdam» aus dem Jahr 1526.
Ziel der Ausstellung ist es aber, nicht nur die altbekannten Highlights herauszupicken, sondern auch die beeindruckende Bandbreite von Dürers Schaffen im Bereich der Druckgraphik abzubilden. Deshalb werden auch weniger prominente Werke gezeigt, etwa zwei seiner rein ornamental angelegten «Knoten-Holzschnitte» (1507).
Überraschend dürfte für viele auch sein, dass Dürer nicht nur Holzschnitte und Kupferstiche anfertigte, sondern auch mit Säureverfahren experimentierte. Davon zeugen in der Ausstellung zwei im Medium der Eisenradierung ausgeführte Blätter: das «Studienblatt mit fünf Figuren» (1515) und «Die Entführung auf dem Einhorn» (1516).
Ob die Wirkmacht eines Künstlers oder einer Künstlerin über die Zirkel eines elitären kunstaffinen Publikums hinausreicht, bemisst sich daran, ob man ihn oder sie auch ausserhalb von wohltemperierten Museumsräumen antrifft.
Reproduktionen von Albrecht Dürers Bildschöpfungen haben so ziemlich jeden erdenklichen Ort erobert: vom Schulbuch, über das grosselterliche Schlafzimmer oder zuletzt die öffentlichen Freibäder, gehören doch seine «Betenden Hände» oder die rätselhafte «Melencolia I» inzwischen zum Standardrepertoire eines jeden Tattoostudios. Die Ausstellung nimmt dies zum Anlass, auch Photographien von Tätowierungen zu zeigen, die internationale Tattoo-Artists nach Dürers «Apokalypse» (1496-1498) und seinem «Rhinocerus» (1515) ausgeführt haben.
Kuratorin: Susanne Pollack, Graphische Sammlung ETH Zürich
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Kontakt:

Bild: Albrecht Dürer , Knoten mit sieben gleichen Geflechten, nach 1507, Holzschnitt , 266 x 210 mm, Inv.Nr. D 7785, Graphische Sammlung ETH Zürich
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Kommentare von Daniel Leutenegger