29. August 2010
Ast wird Arm – vom Naturfragment zur Figurine
Zur Buchvernissage «Figurinen» von Ursula Stricker (Bild) am Freitag, 3. September 2010, ab 18.00 Uhr auf dem «Kornboden» im Turm Schloss Holligen, Bern.


Bilder: Katharina Bütikofer
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Willkommensgruss: Monika Mathys
Zum Buch Figurinen: Dr. Manfred H. Hiefner, Stämpfli Verlag AG
Musik: Christine Lauterburg
Installation der Figurinen
Weitere Öffnungszeiten:
Samstag, 4. September 2010, 14 – 19 Uhr
Sonntag, 5. September 2010, 10 – 19 Uhr
Die Künstlerin ist anwesend
Turm Schloss Holligen, Holligenstrasse 44, 3008 Bern
(Tram 5 bis Endstation Fischermätteli, Bus 13/14 bis Loryplatz)
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Zum Buch:

Ursula Stricker
Figurinen
160 Seiten, gebunden, zweisprachig (dt., frz.)
CHF 68.- / € 43,-
ISBN 978-3-7272-1132-4
Stämpfli Verlag AG Bern
http://www.staempfliverlag.com/
Wenn sich Ursula Stricker mit der ihr eigenen Sensibilität in der Aussenwelt bewegt, lässt sie sich immer auch auf ihre Umgebung ein. Von Naturfundstücken inspiriert, fügt die Künstlerin diese in einem meditativen Prozess nahtlos zusammen, indem sie deren Lage, Farbigkeit, Struktur und Bewegung bearbeitet und in nie gesehene Gebilde verwandelt. Es entstehen wunderbare Kleinplastiken – Figurinen -, neu und archaisch zugleich.
24 Figurinen bilden das Herzstück des Buches. Sie wurden von Katharina Bütikofer einfühlsam fotografisch porträtiert.

Im Atelier
Von Katharina Bütikofer
Gedanken zum Werk von Ursula Stricker
Die Hand – das Mass der Figurine
Figurinen sind Kleinplastiken, sie passen in die Hände, lassen sich drehen und wenden, von allen Seiten «begreifen». Sie sind nahe am Menschen, an seiner schaffenden Hand, bei den Frauen wie bei den Männern. Sie haben nicht das Herrschende, Ehrfurchtsgebietende der Monumentalplastik an sich, dafür aber viel Nähe, Geheimes, Magisches, Privates.
Wie der Tanz zieht sich die Kleinplastik in endlosem Reigen durch alle Epochen und Kulturen. Sie erinnern an kykladische Idole, an ägyptische Grabbeigaben, an die Kachinas der nordamerikanischen Indianer, an Porzellanfiguren aus China und Japan, an alle von Laien geschnitzten Figuren, an alle Tonfiguren in den Brennöfen der Erde und an Puppen der Kinder dieser Welt, selbstgemachte, geschenkte.
Gross ist auch die Zahl der Künstlerinnen und Künstler, die sich mit der Kleinplastik auseinandersetzen und auseinandergesetzt haben, sei es als Herstellung von plastischen Ideenskizzen, von Modellen oder von kleinen Skulpturen in allen erdenklichen Materialien und Materialkombinationen.
Ursula Stricker reiht sich mit ihren Figurinen ein; dennoch sind sie unverwechselbar und neu. Sie sind von primären Funktionen befreit, sind weder Talismane noch Puppen und entziehen sich letztlich einer umfassenden Interpretation.
Ast wird Arm – vom Naturfragment zur Figurine
Paul Klee schreibt 1923 in seinem Aufsatz «Wege des Naturstudiums»: «Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non. Der Künstler ist ein Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur.» Die Natur sei also unerlässliche Grundlage künstlerischer Gestaltung.
Ursula Stricker geht diesen Weg. Sie findet ihre Materialien und ihre Inspiration in der Vielfalt der Natur. Alles beginnt mit Wahrnehmung, Finden und Sammeln. Das zukünftige Werk ist schon latent vorhanden in der grossen Sammlung von Naturobjekten, welche sie selbst zusammenträgt und im Atelier hütet und auf sich wirken lässt.
Dazu kommen Geschenke von Freunden und Bekannten: eine Feder, ein Kiesel, ein Kristall. Im Moment, in dem sie aus der Fülle ein Holzstück, einen Stein auswählt, beginnt die Metamorphose, in der aus dem zufällig scheinenden Zusammentreffen von Naturfragmenten eine Figurine entstehen kann.
Der Arbeitsprozess ist langsam, aufmerksam, vorerst ohne zwingende Vision des Resultats; eine neugierige Zwiesprache mit den Fundstücken, mit dem Wesen, das sich entwickelt. Tausend Entscheide sind notwendig, Lage und Komposition der Elemente, Verbindung, Fassung, Struktur und Farbe werden erprobt, aufeinander abgestimmt, geschliffen, überarbeitet.
Dazu stehen im Atelier Kitte, Leime, Modelliermassen, Acrylfarben, Pigmente, Bindemittel, Stifte und Pinsel zur Verfügung. Durch das Verschmelzen der Teile ist oft kaum zu erkennen, wo die Teilstücke unbearbeitet belassen und wo sie behutsam verändert werden.
Allmählich oder plötzlich stellt sich auch der Bedeutungswandel ein: ein verzweigtes Holz wird zum raumgreifenden Körper, ein Stein zum Rock, eine Rinde zur Krone, ein Zweig zum Arm.
Dieser Sinnsprung fasziniert immer wieder. Schon Leonardo da Vinci hat seinen Schülern empfohlen, in fleckigen Mauern Figuren, ja ganze Szenen zu entdecken und so ihre Gestaltungsphantasie anzuregen.
Die Art, wie sich Ursula Stricker dem Herausholen von neuer Bedeutung aus den Dingen der Natur hingibt, ist geprägt von Einfühlung und der Balance zwischen Eingriff und Entstehenlassen.
Die Wahl, in den Figurinen deren Herkunft aus der Natur oder ihre neue figurative Bedeutung zu sehen oder zwischen den Betrachtungsmöglichkeiten zu wechseln, ist eine aktivierende Herausforderung an die Betrachtenden.
Stehen auf Sockelfüssen
Wenn die Figurinen in Gruppen zusammenstehen, fallen als hervorstechendes Charakteristikum die Füsse auf. Sie sind vollplastisch ausgebildet, meist gross im Bezug zur Gesamtfigur, überaus einfallsreich und vielfältig in Farbe, Struktur und Form gestaltet.
Wir sind uns gewohnt, bei Figuren zuerst den Kopf zu beachten, oft schenken wir den Füssen kaum Beachtung. Die Figurinen von Ursula Stricker zeigen uns, wie kostbar Füsse sind. Sie tragen uns, sind Gegenpol zum Kopf, verhelfen uns zu Standfestigkeit und Bewegung.
Bei der Betrachtung der Figurinen fällt darum der Blick oft zuerst auf diese Sockelzone und gleitet erst dann hinauf, in einer gegenläufigen Blickführung zum Gängigen. Mit Recht stellen sich die Betrachtenden die Frage, ob es sich denn hier um Sockel oder um Füsse handelt.
In der europäischen Plastik ist die Sockelfrage ein Dauerproblem, Reiterstandbilder stellte man als Zeugnis der Macht auf hohe Sockel, im Anfang des letzten Jahrhunderts begann man am Sockel zu zweifeln und zu experimentieren, Brancusi thematisierte dies in seinen Werken, in der Mitte des Jahrhunderts verschwand der Sockel ganz, die liegende Bodenskulptur der Minimalisten setzte neue Massstäbe.
Ursula Stricker verbindet in einer organischen Art Sockel und Figur, die Figur trägt ihren Fusssockel mit sich wie die Schnecke das Haus. Darum können die Figurinen auch auf zusätzliche Sockel verzichten.
Viele der bekannten historischen Figurinen liegen, sie sind nicht als stehende Gebilde gedacht. Ursula Strickers Figurinen stehen und tanzen. Als Tänzerin weiss sie von den grossen Bewegungen des menschlichen Körpers, vom Schlüsselerlebnis des ersten Stehens und Gehens.
Euthymia und Tai Chi
Die Figurine mit dem Titel «Euthymia» ist auf den ersten Blick leicht als Frauenfigur in langem, sich konisch verengendem Gewand mit erhobenen Armen zu lesen. Auf halber Höhe des Kleides werfen sich spiralförmige Faltengebilde auf, weiter oben beginnt eine feine, silbergraue Riffelung. Schulter und Kopf verschmelzen zu einem eigenartigen, zweigehörnten Ende, das als Kopf, Kopfputz oder Kronenfragment gelesen werden kann. Aus der Schulterpartie wachsen flügelartige Arme seitwärts.
Die konzentrierte Strenge der Figur, ihre Grösse und die sehr feinen, differenzierten Farben, die von Grau zu Ockertönen und Elfenbeinweiss spielen, lassen an die Schlangengöttinnen von Kreta denken, jene geheimnisvollen Kleinplastiken aus der minoischen Kultur um 1500 v. Chr.
Diese Wesensverwandtschaft über Tausende von Jahren hinweg ist absichtslos entstanden. Die Ausgangselemente der Figurine «Euthymia» sind ein Gefüge aus einem Stein aus der Provence und einem verwitterten Stück Holz aus den Berner Alpen.
Die Oberflächenbearbeitung verlockt zu nahem Betrachten und einer Wanderung durch die fein strukturierte Körperlandschaft der Figurine. Spuren von unberührten Flechten gehen allmählich über in aufmodellierte Zonen, welche mit feinen, geritzten Strichelzeichnungen herausgearbeitet sind und übergehen in das unbearbeitete Holz.
Die Oberflächen erinnern an das zeitlose Tropfen in Grotten, wo sich der Stein allmählich mit einem Kleid von bizarren Kalkablagerungen überzieht. Diese Betrachtungsübung mit Distanzwechsel lässt einerseits die zarte Feinstruktur und andererseits die Monumentalität der Kleinplastik erkennen.
Die Figur «Tai Chi» steht in grossem Gegensatz zu «Euthymia». Während diese blockhaft statisch dasteht, geht es bei «Tai Chi» um eine luftig durchbrochene plastische Raumzeichnung, inspiriert von den Arabesken der Natur. Auf stabilem Fusssockel erhebt sich ein schlankes Wesen, das nach vorne und hinten zu wippen und dessen weich geschwungener Arm den Raum zu umfassen scheint.
Die blauschwarze, leicht glänzende Bemalung hält das Luftige zusammen. Von der Figur geht ein Bewegungszauber aus, besonders dann, wenn sie ihr graziles Schattenbild wirft.
Die Titel der Figurinen bilden sich schon während des Arbeitsprozesses heraus oder werden nachträglich gegeben. Es sind Namen, die für die Künstlerin stimmig sind, aus ihrer eigenen Bezugswelt auftauchen und sich als eine persönliche Interpretation in einem Wort verdichten. Die Betrachtenden sind frei, diesen Sprachinterpretationen zu folgen oder den Figuren «ohne Titel» zu begegnen.
Zeichnung zwischen Tanz und Figurine
Jede Zeichnung beginnt, lange bevor der Stift das Blatt berührt und sichtbare Spuren hinterlässt. In Gesten und Augenbewegungen zeichnen wir dauernd unsichtbare Spuren und Wege. Wenn unser Auge Konturen nachspürt, sich in der Ferne verliert, den flüchtigen Flug eines Vogels erhaschen will, dann tanzen wir innerlich mit.
Die Sichtbarmachung dieser Sehspuren ist ein Abstraktionsvorgang, der vom inneren und vom äusseren Erfahrungsrepertoire genährt ist. Bei Ursula Stricker besteht kein Bruch zwischen dem Äusseren und dem Inneren, dem Abzeichnen und dem Zeichnen aus der Vorstellung. In ihren Figurenzeichnungen findet sie schnelle und knappe Formulierungen für das, was sie in der dauernden Beschäftigung mit dem menschlichen Körper verinnerlicht hat. So sind ihre Zeichnungen nicht voyeuristische, von aussen gezeichnete Akt- und Figurenstudien, sondern sie bringt sich selbstbildnishaft, von ihrer Körpererfahrung geleitet, in die Zeichnungen ein. Diese können sehr einfach linear, fragmentarisch oder expressiv verdichtet sein, ein- oder mehrfarbig.
Von der Zeichnung führt ein logischer Weg in den Raum, zur plastischen Figur. Was zuerst als Zeichnung in Gedanken, dann sichtbar in der Fläche immer wieder geübt wurde, wird nun auf den komplexen dreidimensionalen Körper verlagert.
Transdisziplinarität
Ursula Stricker ist Tänzerin, Bewegungspädagogin, Malerin, Zeichnerin und Autorin. Sie lebt als Persönlichkeit die Verbindung der bildenden und der darstellenden Künste und betrachtet dieses Ineinanderwirken mit Recht auch als Quelle ihrer Inspiration.
Ohne die intensive Körperarbeit, das Wissen um Bewegung, Haltung und Gleichgewicht, wäre die Gestaltung der Figurinen in dieser Art nicht möglich. Ursula Stricker erlebt diese Welten als Einheit, nicht als Aufspaltung; und das führt wiederum zurück zu den Gedanken an die Urzeiten oder an die Anfänge des Menschenlebens, wo Einheitlichkeit über dem späteren Aufteilen der Welt in Disziplinen steht.
Die Durchlässigkeit der verschiedenen Ausdrucksformen eröffnet neue Möglichkeiten. Die Figurinen sind allseitig betrachtbar, also voll rundplastisch gestaltet. Die verschiedenen Ansichten einer Figurine sind nicht nur formal sehr unterschiedlich, sondern können auch emotional verschiedene Zustände vermitteln. Von der einen Seite kann sie beispielsweise sich voll Zuneigung beugen, von der anderen in kühler Distanz abwenden.
Wie der Tanz leben die Figurinen aus den vielen Möglichkeiten der Ansichten. Im Gegenlicht werden sie zu dunklen Schattenrissen, welche das Gefühl der Zeichnerin für Raum und Zwischenraum, für Flächenkontraste, für Ein- und Ausbuchtungen der Silhouetten offenbaren.
Die Malerin zeigt sich im Mikrokosmos von Farbstellungen und Farbbegegnungen, die Naturharmonien aufnehmen, oft aber auch erfrischend frech und immer präzise formunterstützend eingesetzt sind.
Als Sammlerin und Plastikerin bleibt sie hauptsächlich der Natur verpflichtet, was den Figurinen ihr unverwechselbares Gepräge gibt.
Wofür stehen Ursula Strickers Figurinen, wenn sie allein oder in Gruppen auftreten? Dazu gibt es viele gültige Antworten. In ihrer Individualität und Vielfalt sprechen sie ihre Sprachen und stehen für sich selbst.

Seherin
BIOGRAFIE
Ursula Stricker, *1956, Schweizerin, lebt und arbeitet in Bern und Oberdiessbach. Ausbildung in Tanz und Körperzentrierung in New York, bildende Künstlerin (Mitglied visarte) in der Schweiz und in den USA.
Zahlreiche Ausstellungen, multimediale Tanzperformances und Installationen der Figurinen.
Lehrtätigkeit in Placement und freiem Tanz im eigenen Studio «Etage» in Bern und im Ausland.

Lakshmi
Kontakt:
ursula.stricker(at)bluewin.ch
Buchprospekt
«Figurinen» (PDF 618 KB)
Flyer «Figurines»
(english, PDF 238 KB)
Vorankündigung
Zeichnungen von Ursula Stricker
Ausstellung im Kunstraum QUER Junkerngasse 3, 3000 Bern
Vernissage: Freitag 22. Oktober 2010, ab 17.00 Uhr
Ausstellung: 22. Oktober bis 17. Dezember 2010
Kommentare von Daniel Leutenegger