12. März 2014
Bundesrat Berset in Leipzig über «Das Privileg, uns gegenseitig verstehen zu müssen»
Rede von Bundesrat Alain Berset (Bild) anlässlich der Buchmesse Leipzig 2014:
Foto: http://www.edi.admin.ch/
(Es gilt das gesprochene Wort)
«‹Als Schweizer geboren zu werden, ist ein grosses Glück. Es ist auch schön, als Schweizer zu sterben. Doch was tut man dazwischen?›, fragte der österreichische Schriftsteller Alexander Roda Roda.
Ja, was tut man dazwischen? Zurzeit ist man versucht zu sagen: Man verwirrt die Welt. Und danach erklärt man der verwirrten Welt die Schweiz.
Die Schweiz ist zwar nicht gross, aber vielfältig. Sie ist mitten in Europa ein Europa im Kleinen, aber kritisch, wenn es um die Integration in Europa geht.
Sie ist eines der wettbewerbsfähigsten und innovativsten Länder der Welt und gleichzeitig wünschen sich manche Schweizerinnen und Schweizer eine Entschleunigung des Lebens.
Auch geographisch herrscht Vielfalt: Mehrere Viertausender und gleichzeitig im Tessin mediterranes Klima.
Die Schweiz ist ein kleiner Staat, der seinerseits aus 26 Kleinstaaten – Kantonen – besteht.
Wie schrieb doch der Schweizer Historiker Edgar Bonjour: ‹Die Schweiz ist eine der eigenartigsten und rätselhaftesten Entwicklungen der Geschichte.›
Die Schweiz ist vielfältig
Tourismus-Experten präsentieren die Schweiz der Welt gern als Land der Kühe und des Jodelns, dabei ist sie ein wirtschaftliches Powerhouse. Die Schweiz ist das Land, das sich nach Grossbritannien am frühesten in die wirtschaftliche Moderne aufgemacht hat. Als die Autorin von Heidi, Johanna Spyri, 1827 zur Welt kam, steckte die Schweiz bereits mitten in der Industrialisierung.
Was in Europa momentan besonders zu verwirren scheint: Die Schweiz ist eine Demokratie – und das Volk hat auch tatsächlich die Macht. In unserer halbdirekten Demokratie entscheiden die Stimmbürgerinnen und -bürger auch über Sachfragen.
Auch die Schweizer Literatur zeichnet sich aus durch Vielfalt, so dass man sich fragen muss: Gibt es die Schweizer Literatur überhaupt? Oder nur Schweizer Literaturen? Oder nur in der Schweiz geschriebene Literatur? Oder von Schweizerinnen und Schweizern geschriebene Literatur?
Das Privileg, uns gegenseitig verstehen zu müssen
Verlage, Autorinnen und Autoren aus der Schweiz kommen seit Jahrhunderten nach Leipzig. Der älteste Katalog der Leipziger Buchmesse stammt aus dem Jahre 1595. Das Verzeichnis enthielt zwölf Titel aus dem Gebiet der heutigen Eidgenossenschaft, alle aus Genf. Nicht nur die Deutschschweiz, auch die heutige französischsprachige Schweiz hat also eine weit zurückreichende Tradition des kulturellen Austausches mit der deutschen Kultur.
Die Schweiz ist in Leipzig ein gut aufgehobener Gast, aber kein Gastland. Sie ist Schwerpunktland. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn die Schweizerinnen und Schweizer waren schon immer auch Teil der deutschen Literatur und der deutschen Sprache.
Wie schrieb doch Peter von Matt über Ulrich Bräkers Beschreibung des Lebens der preussischen Soldaten? ‹Was ist das jetzt, ein Stück Schweizer Literatur oder preussische Literatur oder deutsche Literatur? Es ist alles zusammen. Weder Berlin noch Deutschland noch die Schweiz können diese Erzählung je aus ihrer kulturellen Erinnerung tilgen. Sie gehört allen.› Ebenso gehört natürlich die Tessiner Literatur auch zur italienischen Kultur, die Literatur aus der Romandie auch zur französischen Kultur.
Wir können nicht Schweizerinnen und Schweizer sein, indem wir uns auf eine einzige Sprache, Kultur und die damit verbundenen Traditionen reduzieren. Damit würden wir andere ausschliessen, die zu uns gehören. Kurz: Wir haben das Privileg, uns gegenseitig verstehen zu müssen.
Ein Volk von Übersetzern
Wir sind – als kulturelle Grenzgänger – ein Volk von Übersetzerinnen und Übersetzern. Das ist auch der Grund für den hohen Stellenwert, den die Übersetzung beim Schweizer Auftritt in Leipzig einnimmt.
Wir leben in inniger Halbdistanz zu unserem jeweiligen Sprach- und Kulturkreis, zu Deutschland, Frankreich, Italien. Gleichzeitig leben wir die politische Gemeinschaft mit unseren anderssprachigen ‹compatriotes›, ‹concittadini› und ‹convischins› – unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Aber die Schweiz wäre nicht die Schweiz, wenn sich nicht auch diese Beziehungen noch ein bisschen vielfältiger gestalten würden.
Wir haben nach Luxemburg den höchsten Ausländer-Anteil und die höchste Zuwanderung in Europa. Die bemerkenswerte Internationalität der Schweiz ist auch in Zukunft nicht gefährdet. Von Abschottung kann auch nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 keine Rede sein. Die Schweiz hat über 23% Ausländerinnen und Ausländer, das ebenfalls weltoffene Deutschland mit 9% rund zweieinhalb Mal weniger. Mehrere Literaturpreisträgerinnen und -träger der letzten Jahre stammen aus zugewanderten Familien und sind ursprünglich nicht-schweizerischer Muttersprache. Gerade dieser Zuwanderer-Blick auf die Schweiz ist besonders genau und deshalb hoch interessant.
Wir sind nicht Schweizer, weil wir keine Franzosen, Italiener, Deutsche oder Österreicher sind. Das gibt zu wenig her. Wir können uns als Schweizerinnen und Schweizer nicht nur durch Ablehnung und Abwehr definieren. Dafür sind unsere kulturellen Beziehungen – auch untereinander – zu komplex.
Gerade die Künstlerinnen und Künstler leben von durchlässigen Grenzen und vom Austausch. Man muss diese Grenzen dann aber auch wirklich überschreiten. Der österreichische Theaterkritiker Hans Weigel hat bedauert, dass Friedrich Schiller die Ur-Schweiz nie besucht hat – auch nicht nach der Niederschrift seines ‹Wilhelm Tell›. So sah Schiller nie, wie sehr seine Darstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Oder, wie Weigel ironisch präzisiert, ‹wie sehr die Gegend rund um das Rütli sich nach Schillers Anweisungen richtet.› Man muss es zugeben: Die Schweiz leidet nicht nur an den Schweiz-Klischees, sie ist auch stets freudig an deren Produktion beteiligt …
Literatur ist Anti-PR
Weshalb ist literarische Vielfalt der Schweiz heute so wichtig, vielleicht so wichtig wie nie zuvor? Weil sie ein Kontrast-Programm bietet zum Schwarz-weiss-Denken, zu den gängigen Codes wie ‹dazugehören/nicht dazugehören›, ‹offen/abgeschottet›, ‹vertraut/fremd›.
Die kulturelle Vielfalt hilft uns, im digitalen Zeitalter nicht zunehmend binär zu denken, also jedes Thema brachial in Pro und Contra aufzuspalten. Gerade die genau beobachtende Schweizer Literatur macht es den ‹terribles simplificateurs› schwieriger. Diesen französischen Begriff hat übrigens ein Deutschschweizer geprägt, der grosse Kunsthistoriker Jacob Burckhardt – und zwar in einem Brief an seinen deutschen Freund Friedrich von Preen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist Literatur heute schon politisch, indem sie sich die Zeit und die Mühe nimmt, Menschen und Gesellschaften mit Tiefenschärfe zu beschreiben. Indem sie also der Versuchung der schnellen, vorschnellen Verständlichkeit widersteht.
Literatur ist der natürliche Feind der Schlagworte, Literatur ist Anti-PR.
Was also ist Schweizer Literatur? Die stete Mahnung, es uns mit den Antworten auf Identitätsfragen nicht allzu leicht zu machen.»
Quelle / Mehr:
https://www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msg-id=52290
Kommentare von Daniel Leutenegger