1. Juni 2023
«CHIHARU SHIOTA. EYE TO EYE»
Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv Zürich, bis am 10. September 2023
Bild: Chiharu Shiota, 2020 – Foto: Sunhi Mang
Das Museum Haus Konstruktiv widmet der international gefeierten japanischen Künstlerin Chiharu Shiota (*1972 in Osaka, lebt und arbeitet in Berlin) die erste Einzelausstellung in der Deutschschweiz. Neben aktuellen Gemälden, Arbeiten auf Papier und skulpturalen Objekten ist die eigens für die Zürcher Ausstellung geschaffene, raumumfassende Fadeninstallation «Eye to Eye» zu sehen.
Chiharu Shiota ist bekannt für ihre poetisch anmutenden, sich im Raum ausbreitenden, dicht verwobenen Fadeninstallationen. Obschon in Japan und Australien im Studienfach Malerei ausgebildet, wendet sich die Künstlerin Mitte der 1990er–Jahre Performances und Installationen zu. Das Verknoten und Verweben von zunächst schwarzen, später auch roten und weissen Fäden ermöglicht es ihr, den Raum zu erkunden und wie mit einer Linie im Raum zu zeichnen. Für Chiharu Shiota stellen die mit rotem Faden verarbeiteten Geflechte zudem eine Analogie zu zwischenmenschlichen Beziehungen dar; der Faden lässt sich verbinden und verknüpfen, er kann sich aber auch verheddern oder gar reissen. Die netzähnlichen Fadenstrukturen werden somit zu Metaphern für Beziehungen aller Art.
In «Eye to Eye», der für das Museum Haus Konstruktiv entwickelten Installation, verzichtet Chiharu Shiota auf solche dichten Fadenkonstruktionen. Eine überwältigende Menge von blutroten Seilen hängt senkrecht von der Decke. Darin eingeknüpft sind unzählige getragene Korrektur– und Sonnenbrillen, die die Künstlerin im Laufe der Zeit gesammelt hat.
Chiharu Shiota greift in ihren Installationen vermehrt auf gebrauchte Gegenstände zurück, denn sie sieht in diesen eine unmittelbare Verbindung zu den Menschen, denen sie einst gehörten. Die ehemaligen BesitzerInnen sind in der Arbeit zwar nicht direkt anwesend, aufgrund der in die Brillen eingeschriebenen Spuren aber dennoch präsent. Das Konzept der Anwesenheit des Abwesenden zieht sich wie ein roter Faden durch Shiotas Œuvre.
In «Eye to Eye» überlässt es Chiharu Shiota dem Publikum, einen eigenen Zugang zu Objekten zu finden, sich mit ihnen zu identifizieren, sich ihnen mit eigenen Gedanken und Erinnerungen zu nähern. Auch wenn die Wahrnehmung eines jeden Besuchers und einer jeden Besucherin unterschiedlich ausfallen mag, glaubt die Künstlerin, dass die Gefühle, die wir haben, universell sind. So schreibt sie:
«Grief will feel like grief to each of us, pain will be pain and love is love. … We are all connected despite the differences. How much can we share the pain of others?»
Überlegungen und Fragen zur menschlichen Existenz – etwa dazu, woher wir kommen, wohin wir gehen und was von uns zurückbleibt, wenn wir einmal nicht mehr hier sind – stellen sich auch beim Betrachten der Exponate im 1. Stock ein. Sie alle zeugen von Shiotas Beschäftigung mit dem Leben, dem Tod und «allem, was dazwischen liegt». «Out of My Body» (2020), die installative Arbeit in der linken Raumhälfte, zeigt rot eingefärbte, an der Decke fixierte Teile aus Rinds– und Ziegenleder, die auf unterschiedlicher Höhe im Raum schweben. Auf dem Boden ruhen ein Paar Füsse aus Bronze, es sind Abgüsse der Füsse der Künstlerin selbst. Nachdem sie zum zweiten Mal mit der Krankheit Krebs konfrontiert war, verspürte sie den Wunsch, Arbeiten aus beständigen Materialien für die Nachwelt anzufertigen. Über den Umgang mit der Krankheit und der eigenen Sterblichkeit schreibt sie:
«When I was informed that my cancer had returned, the ground fell beneath my feet. In the hospital, my body was not my body anymore, my body was handed through a system, broken apart and put back together until I was whole again. My body has healed again and now when my feet touch the earth, I feel connected to life. … We are all going to die someday. But death is not a limitation of our existence or memory. It belongs to the cycle of life as a new state of being. It is like moving to a bigger universe where our thoughts and memories remain. In the end, I transformed my suffering to create something new, which made me feel hopeful.»
Dass Chiharu Shiota den Tod nicht als Endpunkt, sondern als Moment der Metamorphose hin zu einem veränderten Zustand versteht, zeigt sich auch in den «Cells» (2022), mit Draht umwickelten Objekten aus Glas, die – so Shiota – Organen ähneln:
«The glass objects resemble organs that are wrapped in wire. The wire restricts the glass and at the same time shapes the glass into a new form. It is an embodiment of the physical stress my body experienced during my chemotherapy. Cancer cells once growing in the body, removed, and new cells regrowing. The glass is fragile but at the same time so durable that it can be shaped into a new form. Old cells dying and new cells created with every breath of life.»
«State of Being (Books)» und «State of Being (Dress)» lauten die Titel der beiden 2022 entstandenen, in der rechten Raumhälfte platzierten Glaskästen. In dem einen Objekt sind Teile eines auf dem Flohmarkt erworbenen Buches mit roten Fäden umsponnen, das andere Objekt bewahrt ein getragenes weisses, mit schwarzem Faden umflochtenes Kleid. Das Kleid, ein wiederkehrendes Motiv in Shiotas Œuvre, steht hier stellvertretend für den abwesenden Körper. Die Künstlerin empfindet Kleider gemeinhin als «zweite Haut»; sie bilden somit den Übergang zwischen dem Inneren und Äusseren, zwischen dem Menschen und dem Universum. Letzteres wird zusätzlich durch die schwarze Farbgebung des Fadens betont, denn Schwarz steht für Shiota im Zusammenhang mit Tiefe – mit dem Nachthimmel oder dem Urknall, aus dem das Universum hervorgegangen ist.
Im gleichen Zusammenhang sind auch die poetisch anmutenden, mit wasserlöslicher Wachskreide verfertigten Zeichnungen «Connected to the Universe» von 2023 zu sehen. Winzige schwarze Figürchen stehen zwischen grossen, zellenartigen Gebilden oder diesen gegenüber. Die schwarz gezeichneten Menschlein sind jeweils auf Bauchnabelhöhe mit den sie umgebenden roten, blauen oder schwarzen Bildwelten durch eingearbeitete rote Fäden verbunden. Hier geht alles fliessend ineinander über, Faden und Farbe, Linie und Fläche, Bewusstes und Unbewusstes, Formulierbares und Unbenennbares. «Ich frage mich oft, wie mein Körper mit dem Universum verbunden ist. Wohin geht mein Bewusstsein, wenn mein Körper nicht mehr da ist?», lautet 2019 eine Frage der Künstlerin, auf die diese Zeichnungen eine mögliche Antwort geben.
Chiharu Shiota studierte von 1992 bis 1996 in Kyoto an der Seika University Malerei. Nach einem Studienaufenthalt in Canberra besuchte sie von 1996 bis 1997 die Hochschule für bildende Künste in Hamburg, anschliessend bis 1999 die Hochschule für Kunst und Design in Brauschweig und danach die Hochschule der Künste in Berlin. Die Kreation ihrer raumgreifenden Installationen bezeichnet sie als Akt der Befreiung von der Einengung durch Papier und Leinwand. Neben Installationen, skulpturalen Objekten und Zeichnungen entstehen auch Theater– und Opernbilder. Neuerdings wendet sie sich wieder der Malerei zu. Internationale Beachtung findet Shiotas Werk insbesondere seit der 56. Biennale di Venezia 2015, wo sie für den Japanischen Pavillon die Arbeit «The Key in the Hand» schuf. Ihre Kunst wird regelmässig weltweit in Gruppen– und Einzelausstellungen gezeigt.
Kuratiert von Sabine Schaschl
mhk
Kontakt:
https://www.hauskonstruktiv.ch/
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Kommentare von Daniel Leutenegger