20. April 2018
«FERDINAND HODLER – ALBERTO GIACOMETTI. EINE BEGEGNUNG»
Ausstellung im Kunst Museum Winterthur, bis am 19. August 2018. Beim Stadthaus
Bild: Ferdinand Hodler, Empfindung, 1909/1910, Öl auf Leinwand, 121 X 175,5 cm, Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur – Foto: SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz)
Das Kunst Museum Winterthur vereint erstmals überhaupt die beiden Grossen der Schweizer Kunst des 20. Jahrhunderts in einer Ausstellung: Ferdinand Hodler und Alberto Giacometti. Der Maler des Symbolismus der Jahrhundertwende trifft auf den Künstler des Existentialismus der Nachkriegsjahre. Die Ausstellung beschreitet entschieden neue Wege, indem es Hodler zu seinem 100. Todestag nicht mehr als Nationalmaler präsentiert, sondern in der Gegenüberstellung mit Giacometti neue gedankliche und ästhetische Zugänge eröffnet.
Hodler und Giacometti
2018 jährt sich der 100. Todestag von Ferdinand Hodler. Ein Grund, das Schaffen des grossen Schweizer Malers der Jahrhundertwende zu würdigen und mit einem völlig frischen Blick einem breiten Publikum zu präsentieren.
Dabei werden entschieden neue Wege beschritten, indem Hodler nicht mehr im Kontext seiner Zeit betrachtet wird, sondern dialogisch mit einer zweiten gleichermassen herausragenden Künstlerpersönlichkeit.
So sollen unkonventionelle gedankliche Zugänge eröffnet und das Werk des Künstlers auf seine inhaltliche Dimension und seine Relevanz für nachfolgende Generationen – und damit auch für uns heute – befragt werden.
Im überraschenden Dialog mit Alberto Giacometti wird das Existentielle seines Werks deutlich spürbar. In den Vordergrund rücken grundlegende Fragestellungen des Menschseins und damit auch Aspekte seines Schaffens, welche die kulturellen Phänomene seiner Epoche weit überstrahlen. Gerade die intensive Beschäftigung mit dem Menschen, mit dem eigenen Ich, mit dem Sterben und dem Tod ist für die heutige Generation so aktuell wie eh und je.
Gleiches gilt für Alberto Giacometti, dessen Schaffen in den letzten Jahren ebenfalls unter verschiedenen Aspekten aufbereitet und erforscht wurde. In der Begegnung mit Ferdinand Hodler, dessen Werk ihm bestens vertraut war, deuten sich Traditionslinien an, von denen aus Giacometti seine genuine Bildwelt entwickelte, die exemplarisch für das Lebensgefühl der Nachkriegszeit steht. Dabei finden sich überraschende Analogien in der permanenten Befragung menschlicher Existenz. Auf formaler Ebene zeigen sich bisher wenig beachtete Parallelen, etwa in Kompositionsschemata und der tastenden Formfindung im zeichnerischen Werk, wo einzelne Themenkreise intensiv umkreist und ausgelotet werden.
Ist Hodlers Darstellung der eindrücklichen Alpenlandschaft längst ins helvetische Bildgedächtnis eingegangen, so stehen Giacomettis Figuren exemplarisch für den Existentialismus der Nachkriegszeit.
Die Ausstellung präsentiert zwei Ikonen der Moderne, die mit ihren zeitlosen Bildfindungen wesentliche Beiträge zur Kunst des 20. Jahrhunderts geleistet haben.
Die Ausstellung
Die Ausstellung «Ferdinand Hodler – Alberto Giacometti. Eine Begegnung» vereint über siebzig Exponate, darunter Hauptwerke und solche, die noch nie öffentlich zu sehen waren. Im Erweiterungsbau vom Kunst Museum Winterthur | Beim Stadthaus werden sie in einer thematischen Gliederung präsentiert, die ausgewählte Motive der Künstler unmittelbar miteinander in Dialog setzt.
Die Figur
Stehende Einzelfiguren spielen eine zentrale Rolle im Werk Hodlers wie Giacomettis. Während letzterer diese als beinahe erstarrte, dünne Figurinen auf einem mit den Füssen verschmelzenden Sockel platziert, fügt sie ersterer als monumentale Gestalt in einen knapp umrissenen Landschaftsausschnitt ein. Im ersten Dialogpaar trifft die filigrane, zugleich statische Form der Femme Venise VIII (1956) von Giacometti mit ihren am Körper anliegenden, regungslosen Armen auf die markante Schwurgeste von Hodlers markigem Redner (Studie zur Einmütigkeit) von 1913 und die ausholenden Armbewegungen vom Lied aus der Ferne (1908) und der Linienherrlichkeit (1908). Während also bei Hodler der Mensch mit der Welt bzw. dem Kosmos kommuniziert, wirkt er bei Giacometti isoliert, gleichsam von der eigenen Existenz gezeichnet. Letztlich finden beide in ihrem Werk – über die grosse Geste und die formale Reduktion – zu einer eigenen, unverkennbaren Monumentalität.
Die Gruppen
Wiederholung und Rhythmus sind das zentrale formale Thema der Figurengruppen von Hodler wie Giacometti. Giacomettis Quatre figurines sur base (1950) bildet den Auftakt zu Hodlers symbolistischen Figurenensembles, vertreten durch Hauptwerke wie Die Wahrheit (1902) und dem Blick ins Unendliche (1913-1916). Im Sinne seines Parallelismus fein austariert, gliedern fünf Frauenfiguren den Bildraum, d.h. die angedeutete Weltenbühne als subtile Bewegung von links nach rechts, während Giacomettis Figurengruppe, fest mit ihrem übermächtigen Sockel verbunden, vergleichsweise statisch den Raum besetzt und in sich verharrt. Diese Starre durchbricht die La clairieère (Place 9 figures) von 1950 mit einer dezidierten Grössenverschiebung und der freien Setzung der Figuren im Raum. Ihre Isolierung zeugt von Dissonanzen einer Welt, in der alle Ordnungen zusammengebrochen erscheinen, während Hodlers sanft rhythmisiertes Figurenensemble eine Harmonie anklingen lässt, wie sie die Kunst des Fin-de-Siècle noch aufrecht zu erhalten suchte – allerdings nicht ohne Hang zur Melancholie aus. Schliesslich dienten Giacometti wie Hodler die Figurengruppen der Verstärkung ihrer künstlerischen Aussage, als Verweis auf die Menschheit schlechthin.
Ego – Alter Ego
Über vierzig Selbstbildnissen in Öl auf Leinwand begleiten Hodlers künstlerische Laufbahn vom 19. Lebensjahr bis zu seinem Tod. Nur wenige Maler haben eine derart intensive Selbstbefragung betrieben und in immer neuen Variationen des Selbst die Suche nach der eigenen Identität bzw. die permanente Bestätigung als Künstler in beeindruckende Bildnisse gebannt. Von Giacometti hingegen existieren vergleichsweise nur wenige Selbstbildnisse. Ausnahme bildet das Frühwerk, in dem sich der junge Künstler wiederholt selbst ins Bild setzte. Die Befragung des Ichs weicht im reifen Werk der Beschäftigung mit seinen Nächsten, seiner Mutter und vor allem mit seinem Bruder Diego. Als Alter Ego diente er letztlich der Reflexion der eigenen Existenz.
Liebe und Leiden
Die Bilder und Zeichnungen von Valentine Godé-Darels Krankheit und ihrem langsamen Sterben bilden eine der berührendsten Werkserien in Hodlers gesamtem Œuvre. Zugleich sind sie im nüchternen Festhalten des Leidens und des körperlichen Zerfalls an Schonungslosigkeit kaum zu überbieten. Mehr und mehr sinkt der Körper der Geliebten auf dem Sterbebett in sich zusammen, bis er schliesslich als schmale parallele Farbfelder auf dem Totenbett ruht. Hier wird die existentielle Dimension Hodlers deutlich spürbar. Dieser intensiven Serie antwortet Alberto Giacomettis eindringliches Porträt seiner Mutter, deren ausgemergelter Kopf und Körper gleichsam im grauen Bildraum zu verschwinden scheint.
Bergwelten
Alberto Giacometti wuchs im Bergell inmitten einer alpinen Berglandschaft auf. Daher erstaunt es, dass das exemplarische Bildmotiv der Schweiz trotz regelmässiger Besuche in Stampa und eigenem Atelier vor Ort im reifen Werk kaum eine Rolle spielt. Indes thematisierte er die Bergwelt im Frühwerk im Stile seines Vaters und griff dabei auf das malerische Vorbild Ferdinand Hodlers, des Taufpaten seines Bruders Bruno, zurück. Dieser fand im reifen Schaffen zu monumentalen Bildkompositionen. Mit ihnen überwand er die topographische Genauigkeit der Bergwelt zugunsten einer beinahe tektonisch zu nennenden Malweise mit leuchtenden Farben und kräftigem, die Bildfläche strukturierendem Pinselduktus. Die wenigen späten Berglandschaften Giacomettis hingegen scheinen in ihrem verhaltenen Grauwerten die heimatlichen Bergmassive eher zeichnerisch zu umschreiben denn spektakulär in Szene zu setzen. Für Giacometti blieb das Bergell, blieben die Berge zeitlebens ein Rückzugsort vom mondänen Künstlerdasein in der Metropole Paris.
Zeichnung als Formfindung
Alberto Giacometti skizzierte auf alle erdenklichen Bildträger. Mit schwungvollem Strich erfasste er die Welt, umkreist seine klassischen Themen, deutet Figuren, Interieurs und Landschaftsausschnitte an. Gewisse Motive tauchen wiederholt auf, so seine Mutter. Mit kräftiger Geste nähert sich der Künstler ihrem Antlitz, diese beinahe wörtlich umkreisend, um gleichsam zum Innern des menschlichen Angesichts vorzudringen. Zugleich verspannt er sie in anderen Werken netzwerkartig mit dem Raum, wenn die Mutter beispielsweise am Tisch liest. Ferdinand Hodler benutzt die Zeichnung zur eigentlichen Formsuche und – klärung. In endlosen Serien von Skizzen und Zeichnungen zu seinen monumentalen Kompositionen, so auch zum Blick ins Unendliche. In unzähligen Blättern kann man gewissermassen den Maler beim Denken zusehen. In den schnell hingeworfenen Skizzen zu seinen mehrfigurigen allegorischen Darstellungen, die er immer wieder neu arrangiert und rhythmisiert wird seine unablässige Suche nach der endgültigen Form deutlich – ein langwieriger Werkprozess, wie ihn auch Giacometti kannte.
Das neue Kunst Museum Winterthur
Das neue Kunst Museum Winterthur, entstanden aus der Zusammenführung des Kunstmuseums Winterthur und des Museums Oskar Reinhart, ist in der glücklichen Lage, bedeutende Werkgruppen von Hodler und Giacometti zu besitzen. Durch die Zusammenführung der Hodler-Bestände ist eine herausragende Werkgruppe entstanden.
Zusammen mit zahlreichen bedeutenden Leihgaben aus Museums- und Privatbesitz – darunter Werke, die nur selten öffentlich gezeigt werden – entsteht diese einmalige Begegnung von aussergewöhnlicher Qualität.
Die Ausstellung ist darüber hinaus für die Stadt Winterthur von kulturpolitischer Bedeutung. Es gilt, die beiden jahrzehntelang unabhängig voneinander betriebenen Institutionen – Kunstmuseum und Museum Oskar Reinhart – mit ihren erstrangigen Sammlungen als gemeinsame Institution neu zu positionieren. In diesem Sinne ist die Ausstellung «Ferdinand Hodler – Alberto Giacometti. Eine Begegnung» auch als sichtbares Zeichen der Vereinigung zu verstehen und als programmatischer Aufbruch der Winterthurer Museumslandschaft.
Katalog
Zur Ausstellung erscheint beim Hirmer-Verlag, München, ein reich bebilderter, wissenschaftlicher Katalog. Mit Beiträgen von Konrad Bitterli, Matthias Fischer, Philippe Büttner und David Schmidhauser. Ca. 150 Seiten, ca. 80 Abbildungen in Farbe, 19 x 28 cm, CHF 30.-
kmw
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Kommentare von Daniel Leutenegger