26. April 2014
«Hülle und Zier – Mittelalterliche Textilien im Reliquienkult» in der ABEGG-STIFTUNG
Sonderausstellung in der Abegg-Stiftung Riggisberg, vom 27. April bis am 9. November 2014, täglich von 14.00 bis 17.30 Uhr

Bilder: http://www.abegg-stiftung.ch/d/museum/sonderaus/2014/bilder.html
Welche Rolle spielen Textilien im Reliquienkult? Die leiblichen Überreste
von Heiligen waren im Mittelalter der kostbarste Schatz einer Kirche; in katholischen Gebieten sind sie es teilweise heute noch. Seit
Jahrhunderten werden Reliquien sorgsam aufbewahrt, eingewickelt in die schönsten
Stoffe, die greifbar waren. Textilien schützen und schmücken. Und mit der Zeit
erlangten sie sogar selbst Reliquienstatus, weil sie verehrte Gegenstände
berührt haben oder weil ein Heiliger sie einst getragen hat. So blieben viele
mittelalterliche Textilien einzig und allein dank des Reliquienkults erhalten.
Die neue Sonderausstellung der Abegg-Stiftung in Riggisberg stellt eine reiche
Palette von Textilien vor, die im Reliquienkult Verwendung fanden. Höhepunkt
der Ausstellung sind die mittelalterlichen Stoffe aus dem Reliquienschrein des
hl. Godehard, Bischof von Hildesheim († 1038). 1131, fast 100 Jahre nach seinem
Tod, wurde er heiliggesprochen. Daraufhin öffnete man sein Grab in der
Hildesheimer Domkirche und überführte den Inhalt in einen vergoldeten und mit
Edelsteinen besetzten Schrein.
Prachtvolle Reliquienhüllen
2009 wurde der Schrein im Zuge einer Konservierung geöffnet. Zum Vorschein kamen mehrere verschnürte Bündel. Darin befanden sich Reste aus dem Grab des Heiligen: Knochen, Gewandfragmente sowie Staub, Steinchen und Erde. Alle Bestandteile waren in mehrere textile Hüllen gewickelt.
In den folgenden Jahren wurden die mittelalterlichen Stoffe im Textilkonservierungsatelier der Abegg-Stiftung restauriert. Nun werden sie zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt.
Besonders prachtvoll ist ein grossformatig gemustertes Seidengewebe. Es zeigt auf dunkelblauem Grund doppelköpfige Pfauen mit reichem Gefieder und imposantem Rad.
Vom zweiten, farbig gemusterten Hüllstoff ist ein komplettes Webstück von 250 x 125 cm erhalten, das kundige Hände zu einer Kastenform zusammengenäht hatten. Es war wohl als Auskleidung des Godehard-Schreins gedacht. Sein Muster besteht aus dunkelgrünen Vogelpaaren mit gelben Konturen und Details auf rotem Grund.
Farblich weniger attraktiv, aber
historisch genauso interessant sind zwei grosse weisse Leinengewebe, denn ihre
Verwendung als Reliquienhüllen stellt eine Zweitnutzung dar. Vorher dürften sie
als Altartücher im Hildesheimer Dom gebraucht worden sein.
Ein Messgewand als Reliquie
Auch aus Hildesheim stammt das Messgewand des hl. Bernward. Genäht aus einem luxuriösen byzantinischen Seidengewebe, gehört es zu den kostbarsten Gewändern des frühen 11. Jahrhunderts. Der einfarbig gemusterte gelbe Stoff zeigt grosse Medaillons, die Paare von Vögeln enthalten.
Bischof
Bernward von Hildesheim († 1022) schenkte das Kleidungsstück dem
Benediktinerkloster St. Michael, das er gegründet hatte. Mit der
Heiligsprechung Bernwards im Jahr 1193 wurde das Messgewand vom Andenken zur
Reliquie. In der Folge schnitten Gläubige mehrmals Stückchen aus dem
Seidenstoff heraus. Die auffälligen rechteckigen Fehlstellen im ansonsten
vollständig erhaltenen Objekt zeugen von dieser Praxis des Teilens von
Reliquien.
Seidenstöffchen aus dem Reliquiar des hl. Candidus
Neben den prachtvollen Stoffen aus Hildesheim präsentiert die Abegg-Stiftung einen nicht minder interessanten Fundkomplex aus der Abtei Saint-Maurice im Wallis, nämlich Textilien aus dem Kopfreliquiar des hl. Candidus. Dieser frühchristliche Märtyrer wurde der Legende nach um das Jahr 302 als Angehöriger der Thebäischen Legion bei Saint-Maurice hingerichtet. Im 12. Jahrhundert stellte man für seinen Schädel ein kostbares Behältnis in Form eines Kopfes her.
Bei der Restaurierung im Jahr 1961 fand man in seinem Inneren nicht nur Schädelteile, sondern auch eine blaue Seidenkappe und Dutzende verschnürter Stoffpäckchen mit kleinen Pergamentzetteln, die Auskunft über die darin eingehüllten Reliquienpartikel geben.
Offenbar wurden auch Überreste von anderen Heiligen
und Andenken von berühmten heiligen Stätten im Kopfreliquiar des hl. Candidus
verwahrt. Die ältesten Gewebe stammen aus dem frühen 6. Jahrhundert, der
Gründungszeit der Abtei Saint-Maurice.
Textilien aus dem Welfenschatz
Die Abegg-Stiftung konnte im Jahr 2005 an einer Auktion einen schweren, schatztruhenartigen Eichenholzkasten erwerben. Die Flachschnitzerei auf seinem Deckel verweist auf den kostbaren Inhalt: «Stoffreste aus dem Reliquienschatz des Hauses Braunschweig-Lüneburg».
Der Kasten barg einen Stapel von Mappen und Papierhüllen, welche wiederum Stofffragmente und Reliquienbeutelchen enthielten. Diese stammen aus dem ehemaligen Schatz der Braunschweiger Stiftskirche St. Blasii, der 1671 der Stifterfamilie dem Adelsgeschlecht der Welfen übergeben wurde und deshalb auch als Welfenschatz bezeichnet wird.
Die Eichentruhe und die Kartonmappen entstanden aber erst im späten 19. Jahrhundert. Damals bearbeitete der Wiener Geistliche und Mediävist Wilhelm Anton Neumann den Welfenschatz im Auftrag der Besitzerfamilie. Die schönsten Stoffe liess er in Kartonmappen einnähen, beschriftete diese und verwahrte sie fortan in einem eigens hierfür angefertigten Holzkasten. 1891 erschien seine gelehrte und umfassende Publikation zum «Welfenschatz».
Die bis 2005 verschollen geglaubten Textilien werden nun erstmals ausgestellt. Von Interesse sind nicht nur die mittelalterlichen Gewebefragmente und Reliquienbeutel selbst. Gezeigt wird auch ihre historische Montage.
Das intakte Ensemble aus Kasten, Kartonmappen,
Papierhüllen und Beschriftungen hat Ausnahmewert, zeugt es doch exemplarisch
davon, wie aus Kultobjekten Forschungsgegenstände werden.
Textilreliquien für die private Andacht
Ergänzt wird die Ausstellung durch zwei Reliquienarrangements aus dem Benediktinerkloster Mariastein im Kanton Solothurn.
Bei den Stücken handelt es sich um eine kleine Sammlung von Abschnitten berühmter Textilreliquien wie zum Beispiel vom Messgewand des hl. Fridolin von Säckingen oder vom Brautkleid der hl. Elisabeth von Thüringen.
Die Stofffragmente wurden um 1900 liebevoll auf Karton zusammengestellt und sorgfältig beschriftet, ein Täfelchen für weibliche und eines für männliche Heilige. In einen Rahmen gefasst, dienten die Textilreliquien vermutlich der privaten Andacht.
Die Textilien aus Hildesheim, Saint-Maurice und Mariastein wurden der Abegg-Stiftung zur Restaurierung und textiltechnologischen Untersuchung anvertraut.
Nach der Sonderausstellung in Riggisberg kehren sie zu ihren Eigentümern zurück.
cp
Kontakt:
http://www.abegg-stiftung.ch/d/museum/sonderaus/2014/press.html

Bild: Im Schrein des heiligen Godehard lagerten die Reliquien verpackt in fünf Bündel. Als Hülltücher dienten Seidengewebe mit grossformatigen Mustern oder weisse Leinengewebe. Auch der Schrein selbst war in seinem Inneren mit einer ganzen Stoffbahn eines spanischen Seidengewebes kostbar ausgekleidet.
Kommentare von Daniel Leutenegger