27. Oktober 2022
«KAPWANI KIWANGA – WORLDMAKING»
Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv, Zürich, bis am 15. Januar 2023
Bild: Kapwani Kiwanga, 2016 – Foto: Bertille Chéret, Courtesy die Künstlerin und Galerie Poggi, Paris
Der jährlich vom Museum Haus Konstruktiv und der Zurich Insurance Company Ltd. vergebene Zurich Art Prize geht 2022 an Kapwani Kiwanga (*1978 in Hamilton, CA, lebt und arbeitet in Paris). Die kanadisch-französische Künstlerin ist die 15. Gewinnerin der renommierten Auszeichnung. Der mit CHF 100’000 dotierte Preis setzt sich aus einem Budget von CHF 80’000 für die Produktion einer Einzelausstellung im Museum Haus Konstruktiv und einer Preissumme von CHF 20’000 zusammen.
Bevor sich Kapwani Kiwanga der Kunst verschrieb, studierte sie Anthropologie und vergleichende Religionswissenschaften in Kanada. Ihre Mitte der 2000er-Jahre aufgenommene künstlerische Praxis wurzelt denn auch in ausführlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Recherchetätigkeiten. Sie umfasst komplexe Installationen, Skulpturen, Videos und performative Vorträge. Ihre Projekte führen Kiwanga in Archive, wo sie ihren Blick auf die Nebenschauplätze dominanter historischer Narrative richtet und sich unter anderem für Themen rund um historische und gegenwärtige Machtasymmetrien und Wissenssysteme interessiert. Daraus entstehen Werke, die sowohl durch ihre nach sozial-geschichtlichen Konnotationen und stofflichen Eigenschaften ausgewählten Materialien – darunter ausgesuchte Hölzer und Gesteine, Keramik oder Textilien – als auch durch ihre reduzierte Ästhetik und klare Formensprache bestechen.
Den Auftakt zu Kiwangas Ausstellung im Haus Konstruktiv bildet die Bodenarbeit «The worlds we tell: Threshold» (2022), deren imposantes Format die Künstlerin eigens auf die Halle im Erdgeschoss des Museums ausgerichtet hat. Sie besteht aus eingefärbten Spanholzplatten, die ein geschichtetes Bild aus Kies, Spiegelglas, Keramik, Kandla-Grey-Sandstein, Marmor und Stahlrohren umrahmen. Drei Kugeln aus Ficusholz setzen Akzente in der abstrakt-geometrischen Linienkomposition. Das hinsichtlich seiner materiellen Fülle auffallend präzise gearbeitete Arrangement ist einer unter demselben Haupttitel geführten Werkgruppe kleinerer Wandreliefs von 2021 zugehörig, mit der die Künstlerin spezifischen Schöpfungsmythen aus verschiedenen Weltregionen nachgeht.
Kiwanga interessiert sich dafür, wie in und durch diese Kosmogonien Welten hervorgebracht, geordnet und verstanden werden und wie Sprachen und Architekturen der Welterschaffung durch die Verwendung spezifischer Materialien im Ausstellungsraum in eine ästhetische Erfahrung übersetzt werden können.
Das Bodenrelief im Haus Konstruktiv nimmt Bezug auf Mythen der Bantu zur Erschaffung der physischen und spirituellen Welt. Eine Linie aus hell glasierten Keramiken, die die Installation längs in zwei Hälften unterteilt, symbolisiert die Trennung zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Weisser Lehm wird häufig mit dem Tod assoziiert. Die parallel zu den Keramiken verlaufenden Bahnen aus Marmor und schwarzem Spiegelglas einerseits sowie hellem Sandstein und Spiegel andererseits deuten die unterschiedlichen Lebensräume der beiden Sphären an, die sich insofern aufeinander beziehen, als sie sich – im Mythos wie im Ausstellungsraum – ineinander spiegeln.
Die vier angeschnittenen Stahlrohre referieren auf die ebenso vielen Eisenstäbe, die in der Kosmogonie des Kongo die Erde – mit einem Ficusbaum in ihrem Zentrum – und das Himmelsdach stützen. Wie die gesamte vorgestellte Architektur der mythologischen Welt sind die Pfeiler für die Installation in die Horizontale überführt worden. Im Umschreiten des grossformatigen Reliefs wird die Ausrichtung und Ordnung des Weltbildes – oben und unten, Dunkelheit und Licht – zu einer Frage der Perspektive und der Verflechtungen untereinander. Räumliche wie auch soziale Strukturen werden mithin nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern als aktiver Prozess veranschaulicht, was sich auch im Ausstellungstitel «Worldmaking» widerspiegelt.
Im Korridor des ersten Stocks wird das Publikum akustisch von der 12-minütigen 2-Kanal-Soundinstallation «500 ft.» (2017) empfangen. Zu hören ist die Stimme von Kiwanga selbst, die hier nüchtern und eingängig zugleich über die Architektur spezifischer Einrichtungen wie Gefängnisse oder Spitäler spricht, über die Hygienebewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Europa sowie über Farbenlehre und Farbexperimente.
Die Rede ist beispielsweise von Baker-Miller Pink, einem von dem US-amerikanischen Psychologen Alexander Schauss in den 1970er-Jahren untersuchten Farbton, der eine beruhigende Wirkung auf den Menschen haben soll, indem er Herzfrequenz und Puls senkt. 1979 wurde Baker-Miller Pink erstmals gezielt im Militärgefängnis von Seattle eingesetzt: Hier kamen besonders aggressive Gefangene in einer komplett in diesem Rosa gestrichenen Zelle in Verwahrung.
Weiter greift die Künstlerin die titelgebenden 500 Fuss (152.4 Meter) auf: den Mindestabstand, der – so lautete ein Vorschlag auf dem Pariser Kongress kolonialer Urbanisten von 1931 – zwischen Europäern und der kolonisierten Bevölkerung einzuhalten sei.
Im Loop abgespielt, verbinden sich in der Soundinstallation diese und weitere Anekdoten, Zitate und Gerüchte zu einer mäandernden Erzählung, die Verbindungslinien zwischen zeitlich und räumlich (vermeintlich) disparaten Geschichten über Überwachung und Ausgrenzung hervortreten lässt.
Eine Wandbemalung in einem satten Grün- und hellen Gelbton untermalt die akustische Szenerie. Der farbliche Wechsel auf der Höhe von 160 Zentimetern nimmt Bezug auf den Internationalen Tuberkulose-Kongress, der 1905 in Paris stattfand: Der deutsche Architekt Heino Schmieden hatte damals vorgeschlagen, zur Eindämmung der bakteriellen Infektionskrankheit die Wände in Spitälern bis zu ebendieser Höhe mit einer abwaschbaren Farbe zu streichen; eine Episode, die Kiwanga auch in «500 ft.» erwähnt und im Ausstellungsraum mit der Präsentation von Werken aus der Serie der «Linear Paintings» (2017) vertieft.
Im Haus Konstruktiv werden insgesamt elf dieser zweifarbigen, auf Trockenwänden angebrachten Malereien gezeigt. Durch die durchgängig gleichbleibende Höhe des Farbwechsels wird der Raum wie die erwähnten Krankenhauswände in zwei Hälften geteilt – ganz so, wie die Gesellschaft mit Kategorien wie «gesund» und «krank» oder «frei» und «unfrei» gespalten wird. Kiwangas Arbeiten machen offenbar, dass in solchen Kategorisierungen festgeschriebene Machtasymmetrien, die unsere Welt räumlich und sozial ordnen, nicht immer schon dagewesen, sondern historisch gewachsen sind, eben: gemacht.
Die Farbwahl der «Linear Paintings» spiegelt neben Hygienebewegungen und Krankenhausreformen die Arbeit des US-amerikanischen Farbtheoretikers Faber Birren wider. Birren wirkte ab den 1930er-Jahren als industrieller Farbberater und beriet seine Kunden, darunter das US-Militär, hinsichtlich der psychologischen Auswirkungen von Farbe auf Sicherheit, Arbeitsmoral, Produktivität und Umsatz.
Die von Kiwanga verwendeten Farbschemata und Proportionen reproduzieren spezifische von der Künstlerin erforschte Institutionen, die jeweils dem Zusatztitel der Arbeiten zu entnehmen sind.
Die helle, von Birren für eine Druckfabrik in Chicago vorgeschlagene Grau-Gelb-Kombination zum Beispiel sollte die visuelle Ermüdung der Arbeiterschaft verringern und die Effizienz der Produktionsstätte steigern, während das helle Türkis einer kanadischen Nervenheilanstalt eine beruhigende Wirkung auf die Patientenschaft haben sollte.
Indem die Werke direkt auf Gips gemalt sind, entsteht der Eindruck, als seien die Originalwände herausgeschnitten und als direkte materielle Zeugnisse dieser Geschichten in den Ausstellungsraum überführt worden. Im Ausstellungsraum findet so eine Überblendung verschiedener Räume statt, die unser Verhalten beeinflussen und regulieren sollen. Dazu ist letztlich auch das museale Setting und das institutionalisierte Ausstellen von Werken der Minimal- und Konzeptkunst zu zählen, das Kiwanga in der formalen Gestaltung und Präsentation der «Linear Paintings» aufnimmt. Mit dem Unterschied, dass die Effekte disziplinierender Raumgestaltungen hier nicht nur geistig nachvollziehbar, sondern auch körperlich spürbar gemacht werden sollen.
Kapwani Kiwanga schloss ihr Studium der Anthropologie und vergleichenden Religionswissenschaften an der McGill University in Montreal 2002 ab. Von 2005 bis 2007 nahm sie am renommierten La Seine-Programm der École Nationale des Beaux-Arts de Paris teil, und von 2007 bis 2009 absolvierte sie ein weiteres Nachdiplomstudium am Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains in Tourcoing (FR).
Kuratiert von Sabine Schaschl
mhk
Kontakt:
https://www.hauskonstruktiv.ch/
Auf www.ch-cultura.ch u.a. bereits erschienen:
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Kommentare von Daniel Leutenegger