11. November 2013
Stiftung Radio Basel zeichnet ORF-Feature «Special Agent Miller» mit erstem Preis aus
Einen ersten Rang und gleich zwei Zweitplatzierte bringt der «featurepreis '13» hervor. Als ebenbürtig erachtet die Jury die Sendung «Calista – Leben mit Trisomie 21» der Schweizer Autorin Martina Arpagaus und den Beitrag über Verdingkinder in der Schweiz des Deutschen Charly Kowalczyk. Das diesjährige Siegerfeature vom österreichischen Autorenduo Andreas Kuba und Günter Kaindlstorfer heisst «Special Agent Miller» und erzählt die Geschichte eines Wiener Juden, der nach dem Krieg vom Opfer zum Täter wurde.
Radio SRF 2 Kultur sendet die prämierten Produktionen in der Sendereihe «Passage». Die Übergabe der Preise findet am 29. November 2013 in Basel statt.
Der «featurepreis» der Stiftung Radio Basel ist der einzige internationale Preis für deutschsprachiges Featureschaffen im Rundfunk. Er wird dieses Jahr zum siebten Mal vergeben.
Insgesamt 21 Produktionen aus Deutschland (ARD), Österreich (ORF) und der Schweiz (SRF) hatte die unabhängige Fachjury 2013 zu beurteilen.
Die diesjährigen Auszeichnungen zeigen gemäss Medienmitteilung «deutlich, wie breit die Palette an Themen und formalen Ideen beim Feature sein kann. Die Stiftung Radio Basel hofft, mit der jährlichen Ausschreibung des ‹featurepreis› einen Beitrag an die Förderung und den Erhalt der vom Spardruck bedrohten Radioform zu leisten.»
Nicht länger Opfer sein
Die Geschichte vom Buben Alfred Müller aus dem Roten Wien, der zum jüdischen Kämpfer Chaim Miller wurde, erzählt das Siegerfeature 2013, das Andreas Kuba und Günter Kaindlstorfer für den ORF produziert haben: «Special Agent Miller». Von Wien über Palästina, Norditalien nach Israel – das Leben des heute 91jährigen Miller ist geprägt von Flucht, Verlust, Widerstand, Rache und Neubeginn. Wie im umstrittenen Tarantino-Kriegsfilm «Inglourious Basterds», in dem ein jüdisches Geheimkommando Jagd auf Nazis macht, entführte Miller 1945 gemeinsam mit Kameraden hochrangige SS- und Gestapomänner, um ihnen den Prozess zu machen. Doch im Gegensatz zu Tarantinos fiktiver Story sind Millers Erinnerungen authentisch «Wir hatten keine richtigen Zeugen. Wir wussten nur, was man uns über die Männer erzählt hat. In den meisten Fällen haben die Täter gestanden.» Die «Verurteilten» mussten ihr eigenes Grab schaufeln und wurden erschossen. Heute lebt Chaim Miller hochbetagt, aber noch rüstig in einem Kibbuz in Israel. Er bereut nichts.
Die O-Ton-Erzählung eines spannenden Zeitgenossen im Zentrum, bildet das Siegerfeature ein weitgehend unbekanntes Stück Weltgeschichte ab. Der Hörer macht eine abenteuerliche, doch stets nachvollziehbare Reise durch Zeit und Raum. Das Feature wirft grundsätzliche Fragen über Opfer und Täter, Moral und Gerechtigkeit auf und bedient dabei keine gängigen Vorstellungen und Klischees.
Die Fachjury der Stiftung Radio Basel zeichnet das vom Österreichischen Rundfunk (Ö1) produzierte Feature «Special Agent Miller – Wie der Wiener Jude Alfred Müller zum ‹Inglourious Basterd› wurde» mit dem ersten Preis in der Höhe von 10’000 Franken aus.
Hautnah am Familienleben
Einer der beiden zweiten Plätze des «featurepreis ’13» geht an eine Arbeit der Schweizerin Martina Arpagaus, die für die Sendereihe «Input» von Radio SRF 3 entstanden ist: «Calista – Leben mit Trisomie 21».
Zum Inhalt: Es gibt neu einen Bluttest, mit dem pränatal Trisomie 21 festgestellt werden kann. Iren Häcki hat nicht getestet und mit Calista vor drei Jahren ein Baby mit Down Syndrom geboren. Im Feature gibt Iren Einblick in ihre damals erschütterte und heute erstarkte Mutterseele. Dank dem spürbaren Vertrauensverhältnis zwischen Autorin und Calistas Familie erlebt die Hörerschaft hautnah den turbulenten, fast normalen Alltag mit dem behinderten Mädchen, seinem Vater und beiden älteren Schwestern. Ein Kinderarzt liefert als Experte und selbst betroffener Vater gut verständliche medizinische Erklärungen.
«Hier wird ein aktuelles schwieriges Thema gleichzeitig mit Leichtigkeit und Tiefe vermittelt. Martina Arpagaus hat mit wenig Ressourcen und technischen Mitteln viel erreicht: Um Calistas Geschichte zu erzählen, erfindet die Autorin eine eigene einfache Form aus verschiedenen sich wiederholenden Elementen. Die Sendung ist schnell und musikalisch geschnitten, hat einen guten Rhythmus und eine durchdachte Dramaturgie.», schreibt die Jury. Sie belohnt das Engagement mit dem zweiten Platz und dem Betrag von 3’750 Franken.
«Halts Maul, du lügst!»
Ebenfalls einen zweiten Preis in derselben Höhe erhält Charly Kowalczyk für sein überraschendes Feature über Verdingkinder in der Schweiz (Co-Produktion DLF/HR/WDR/SWR). Obwohl das Thema in den letzten Jahren mit Ausstellungen, Filmen und Büchern, zumindest in der Schweiz, breit abgehandelt wurde, «liefert der Autor durch seine Aussensicht spannende Erkenntnisse.» (Jury)
Mit rigiden Moralvorstellungen im Hintergrund wurden nicht nur Waisen, sondern auch uneheliche und Scheidungskinder und so genannt Milieugeschädigte von den damaligen Armenbehörden aus ihren Familien gerissen und auf Bauernhöfen gegen Kostgeld «verdingt». Viele wurden wie Sklaven behandelt, oft misshandelt und missbraucht. Eine staatliche Kontrolle existierte kaum; Verdingkinder, die es in der Schweiz bis Ende der 1970er-Jahre gab, waren rechtlos. Aus Scham schweigen die meisten bis heute. Auch die Bauernfamilien und die leiblichen Eltern. Akten sind unauffindbar, Behörden verweigern die Auskunft.
«Gegen diese Wand geht Charly Kowalczyk mit seinem Feature ‹Halts Maul, du lügst› vor. Er lässt ehemalige Verdingkinder zu Wort kommen, er ist neugierig und stellt die richtigen Fragen. Die Neugier springt auf den Hörer über. Die Geschichten berühren und erschüttern. Neben Betroffenen trifft der Autor auch Behördenvertreter und Politikerinnen und geht der Frage nach, wie das in einem zivilisierten Rechtsstaat möglich war, der sich selber für vorbildlich hält. Das Feature zeigt auch, dass das Kapitel noch längst nicht abgeschlossen ist: Betroffene leiden heute noch und Regressforderungen stehen im Raum.
Die Sendung ist unprätentiös gemacht. Es wird schlicht erzählt, oft einfach festgestellt, nur dem Thema verpflichtet. Bewusst gesetzte Pausen machen Atemholen möglich.», urteilt die Jury.
Skulptur und CD für den Sieger
Wie beim «featurepreis» längst interkulturelle Tradition, erhalten die Erstplatzierten auch dieses Jahr als Trophäe ein eigens geschaffenes Werk eines Künstlers aus der Region Basel. So wird die Wellpappe-Skulptur «KOPF-HÖRER» von Peter Brunner-Brugg künftig an einer Wiener Wand hängen. Die festliche Preisübergabe mit Hörproben, Autorengesprächen und Speis und Trank findet am 29. November 2013 in der Basler Gare du Nord statt.
Die mit dem ersten Preis prämierte Produktion «Special Agent Miller» erscheint aufs Fest in der Hörbuchreihe des Basler Christoph Merian Verlag (ISBN: 978-385616-607-7).
Sendehinweis Radio SRF 2 Kultur «Passage»
- Freitag, 29. November 2013, 20.00 Uhr «Special Agent Miller» von Andreas Kuba und Günter Kaindlstorfer
- Freitag, 6. Dezember 2013, 20.00 Uhr «Halts Maul, du lügst – Verdingkinder in der Schweiz» von Charly Kowalczyk
- Freitag, 13. Dezember 2013, 20.00 Uhr «Calista – Leben mit Trisomie 21» von Martina Arpagaus
cp
Kontakt:
Stiftung Radio Basel
Daniela Palla | Geschäftsstelle Mo-Do +41 (0)61 365 32 53
E-Mail: daniela.palla@srf.ch
http://www.srgd.ch/mitgliedschaft/srg-region-basel/stiftung-radio-basel/featurepreis-13/
Kommentare von Daniel Leutenegger